Schwarze Romantik im Stummfilm – Part 1: Die Melancholie des Sensenmanns
„Mystizismus und Magie sind jene dunklen, dumpfen Kräfte, denen sich die deutsche Seele gern hingegeben hat.“, kommentierte die namhafte Filmhistorikerin Lotte Eisner den Hang ihrer Landsleute zum Abgründigen und Übernatürlichen. Obige Feststellung aus dem Buch Die dämonische Leinwand (1952) diente ihr als Ausgangsbasis, um die auffällige Vorliebe für düstere Inszenierungen im deutschen Stummfilm der 1920er Jahre zu erklären. Im Zuge dessen wies sie abseits des Expressionismus noch einen weiteren prägenden Einschlag im Kino des frühen 20. Jahrhunderts nach, der solch finsteres Begehren zu befriedigen vermochte: Die (Schwarze) Romantik. In dieser fünfteiligen Artikelreihe widmen wir uns der Melancholie und dem Wahnsinn, die aus schwarzromantischer Malerei und Literatur in den vornehmlich deutschen und nordeuropäischen Stummfilm hinüberschwappten.
Die Romantik und ihre unheimlichen Seiten
Gemeinhin gilt die Romantik, deren Vertreter sich zum Ende des 18. Jahrhunderts in der Öffentlichkeit formierten, als gedanklicher Gegenentwurf zum Zeitalter der Aufklärung. Während sich in intellektuellen Kreisen eine rationale, d.h. vernunftorientierte Denkweise etablierte, kristallisierte sich zusehends eine zweite, entgegengesetzte Strömung heraus. Den Anhängern jener konträr gelagerten Geisteshaltung ging es nicht darum, die Geheimnisse der Welt durch Vernunft und Verstand zu erschließen. Stattdessen stand die Gefühlswelt des Individuums – in enger Verbindung zur Natur – im Fokus der Aufmerksamkeit. Empfindungen wie Sehnsucht, Leidenschaft und Liebe dominierten die Werke von Friedrich von Hardenberg (Novalis), Caspar David Friedrich und anderen gleichgesinnten Seelen der damaligen Zeit. (GEO, Kunstwissen.de)
Im Kontext dieser Geisteshaltung markiert der Begriff Schwarze Romantik einen Korpus an deutlich finstereren Werken. Die Literaten und Maler dieser Untergruppierung erforschen in ihren Arbeiten die dunklen Flecken der menschlichen Existenz. Dabei offenbaren sie dem Betrachter unheilvolle Albträume, die zwischen phantastisch-bizarr und dämonisch-grausam changieren. Zum festen Figurenrepertoire von Künstlern wie Johann Heinrich Füssli (Der Nachtmahr), Arnold Böcklin (Die Toteninsel) und E.T.A. Hoffmann (Der Sandmann) gehören hierbei Hexen, Teufel, Doppelgänger, Vampire, Geister und natürlich Gevatter Tod höchstpersönlich. Jenen Ausgeburten der Nacht stehen mindestens ebenso symptomatische, morbide Lokalitäten wie beispielsweise zerfallene Ruinen, Friedhöfe und düstere Wälder voll knorriger Bäume gegenüber. Genannte Ingredienzien scheinen geradezu prädestiniert für das junge und experimentierfreudige Bewegtbild-Medium zu Beginn des 20. Jahrhunderts – insbesondere im Hinblick auf die gestalterischen Möglichkeiten, welche sich durch Mehrfachbelichtungen, Stopptricks und Modellaufnahmen ergeben. (Schwarze Romantik – Von Goya bis Max Ernst)
Gevatter Tod als Gefangener eines höheren Prinzips
Der gebürtige Wiener Fritz Lang zählt gleichermaßen zu den wegweisendsten und ambivalentesten Figuren des frühen deutschen Kinos. Zehn Jahre bevor er mit M – Eine Stadt sucht einen Mörder (1931) internationale Anerkennung ernten sollte, schuf der Regisseur mit Der müde Tod (1921) ein kleines Juwel, dessen Atmosphäre der Vergänglichkeit von einer Vielzahl schwarzromantischer Motive beherrscht wird. Im Zentrum der Geschichte, die ursprünglich den Untertitel ein deutsches Volkslied in sechs Versen trug, steht ein junges Pärchen. Deren Idyll zerbricht, als sich in einem unbeobachteten Augenblick Gevatter Tod des Ehegatten bemächtigt. Kurz entschlossen folgt die junge Frau den beiden ins Jenseits. Dort trifft sie eine Übereinkunft mit dem Sensenmann: Wenn es ihr gelingt, eines von drei verlöschenden Menschenleben zu retten, so will der Seelensammler den Liebsten verschonen.
Inspiration für die melancholisch-düsteren Bildkompositionen der Rahmenhandlung bezog der kunstaffine Regisseur aus unterschiedlichen Quellen. Ein direkter Bildvergleich offenbart, dass etwa Caspar David Friedrichs Mann und Frau den Mond betrachtend (1830-1835) und auch Oskar Zwintschers Gram (1898) recht ungefiltert Einzug in Der müde Tod hielten (Schwarze Romantik – Von Goya bis Max Ernst). Die mystische Gegenlicht-Stimmung bei stechendem Vollmond findet sich im Film wieder, als der Apotheker (Karl Platen) des nächtens eine Alraunenwurzel – ein mit übernatürlicher Bedeutung aufgeladenes Gewächs – ausgräbt. Den Kummer-Gestus aus Zwintschers Gemälde setzte Fritz Lang hingegen unter umgekehrten Vorzeichen ans Ende. Nachdem die Gattin (Lil Dagover) keines der drei Menschenleben zu retten vermochte, bricht sie ohnmächtig vor Trauer über ihrem verstorbenen Geliebten (Walter Janssen) zusammen. Dabei verwendet Lang einen dem Gemälde verblüffend ähnlichen Bildaufbau, der das Pärchen ebenfalls in äußerster Nähe zur unteren Begrenzung der Kadrage komponiert.
Auch der schwarzromantischen Geschichte Gevatter Tod (Grimm’sche Kinder- und Hausmärchensammlung) entlehnt Fritz Lang ein konkretes Motiv. Zum wiederholten Male um seine wohlverdienten Seelen betrogen, führt der erboste Sensenmann dort einen pfiffigen Arzt in ein Gemäuer voller Kerzen. Analog zur Schilderung des Märchens inszeniert der Regisseur eine der wundervollsten Szenen in Der müde Tod. Inmitten eines Meeres aus Lebenslichtern fleht die verzweifelte Lil Dagover den Todesengel an, ihren Mann zu verschonen. In diesem Moment offenbart der vermeintliche Gegenspieler eine vollkommen unerwartete, schwarzromantische Facette. Anstelle schonungsloser Härte schlägt der Gattin Melancholie und Ermattung entgegen. Der Tod gibt sich als müder Mann zu erkennen, der seine Berufung aufgrund des allgegenwärtigen Leids verflucht. Insbesondere im Kontext der Entstehungszeit gewinnt der demonstrative Überdruss der Figur erschreckende Verständlichkeit, schließlich kostete der Erste Weltkrieg bloß wenige Jahre zuvor einer Generation junger Menschen das Leben. (Schattenbilder – Lichtgestalten)
Im selben Jahr erschien mit Der Fuhrmann des Todes ein in ähnlich düster-romantische Motivwelten getauchtes Werk, das von der Omnipräsenz des Todes zehrt. Die Selma Lagerlöf-Adaption handelt von einer uralten Schauerlegende. Gemäß jener obliegt es dem letzten Verstorbenen einer Silvesternacht, im folgenden Jahr als Fuhrmann die Seelen frisch Verschiedener einzusammeln. Just in jenem prekären Zeitraum kurz vor Neujahrsanbruch droht der gewalttätige Alkoholiker David Holm (Victor Sjöström) die Schwelle zum Jenseits zu passieren. Bevor Holm jedoch das gefürchtete Amt antreten muss, führt ihm der abdankende Fuhrmann sein sündiges Leben in Rückblenden vor Augen. Interessanterweise tritt dieser dabei nicht als herzloser Vollstrecker auf. Vielmehr kennzeichnet ihn – wie gleichermaßen sein deutsches Pendant aus Der müde Tod – eine auffällige Anteilnahme am Schicksal der Menschen. Regisseur und Protagonist Sjöström wagt hier mit den Mitteln des Irrealen und Metaphysischen – der personifizierte Tod als moralische Instanz – einen Blick in die Abgründe einer verletzten Seele.
Im zweiten Exkurs weichen derlei psychische Blessuren handfesteren Läsionen, denn im nächsten Artikel der Reihe nähern wir uns den spitzen Fangzähnen des Vampirs an und analysieren seine Verbindung zur Schauerromantik.
Der Artikel ist zuerst auf moviepilot.de erschienen!