Filmkritik: Night Train – Der letzte Zug in die Nacht (Aldo Lado, 1975)
Auch wenn das Gros von Aldo Lados Regiearbeiten mittlerweile in Vergessenheit geraten ist, verdient der Regisseur aus drei guten Gründen Anerkennung seitens Liebhabern italienischer Filmkost: Malastrana (1971), The Child – Die Stadt wird zum Alptraum (1972) und Night Train – Der letzte Zug in die Nacht (OT: L’ultimo treno della notte, 1975). Mit ersterem feierte er einen fulminanten, innovativen Einstand. Mit Night Train gelang ihm nach The Child ein weiterer Streich, der für klopfende Herzen bei Eurokult-Fans sorgt. Dabei sollte sich der Zuschauer nicht zu sehr von den Alternativtiteln (u.a. Second House on the Left) beirren lassen. Aldo Lados mit Qualen gespickter Zugtrip funktioniert auch wunderbar ohne den Bezug zu Wes Cravens Genreprimus.
Die jungen Studentinnen Lisa Stradi und Margaret Hoffenbach verschlägt es über Weihnachten nach Italien, wo sie die Feiertage mit Lisas Familie verbringen wollen. Auf der Zugfahrt von München nach Verona sind sie gezwungen in Innsbruck umzusteigen. Im Nachtabteil des dortigen Zugs geraten sie in die Gewalt der beiden Kriminellen Blackie und Curly, die zusammen mit einer wohlhabenden Dame reisen. Aus den anfänglich harmlosen Obszönitäten entwickelt sich für die beiden Mädchen schnell tödlicher Ernst.
Es mutet grotesk an, dass ausgerechnet ein intellektueller Filmemacher wie Ingmar Bergman (Das siebente Siegel, 1957) durch die Verfilmung einer alten schwedischen Sage (Die Jungfrauenquelle, 1960) gleich zweimal als Inspirationsquelle für das Rape’n’Revenge-Genre herhält. Neben Cravens Das letzte Haus links (1972) bedient sich auch Night Train dieser Grundformel in einer weiteren Variation. Der Film nutzt typische Genre-Motive wie Sadismus, Voyeurismus, Selbstjustiz und sexuelle Dominanz, ohne sie jedoch mit dem gewohnten Sleaze-Faktor vergleichbarer Produktionen zu kombinieren. Lado behandelt sein Sujet sowohl distanzierter als auch ernsthafter. Bezüglich seines gesellschaftskritischen Subtexts bietet des Werk daher einige interessante Ansätze, auch wenn diese des Öfteren in unangenehm platten Dialogen daherkommen.
Night Train zeichnet ein zutiefst pessimistisches Gesellschaftsbild, welches durch die Vorherrschaft des Stärkeren geprägt ist. Die rar gesäten Autoritätsfiguren wirken durch die Bank weg zahnlos. Bis zum Ende können sich die beiden Kriminellen scheinbar mühelos jeglicher Bestrafung entziehen. Auch nur so lässt sich nachvollziehen, warum ein defekter Türgriff zwischen den Waggons für den Schaffner zum unüberwindbaren Hindernis mutiert, und die beiden Kriminellen samt ihren Opfern isoliert. Groteskerweise entpuppt sich in dieser Situation die einzige Hoffnung auf Rettung – ein älterer Herr, der mit ihnen im Abteil festsitzt – als Perverser, der befreit von jeglichen gesellschaftlichen Restriktionen die Gunst der Stunde nutzt. Vertreter von Gesellschaft werden hier entweder als unfähig oder bösartig dargestellt. In Bezug auf die reiche Dame und den alten Herrn muss der Zuschauer jedoch hinterfragen, ob ihre Handlungsweise einer charakterlichen Disposition oder dem Kontext geschuldet ist. In diesem Punkt erinnert Lados Film wage an das nach Stanley Milgram benannte, psychologische Experiment, welches sich unter anderem mit den Zusammenhang von Gewalt, Autorität und der Abgabe von Verantwortung beschäftigt. Für genannte Figuren könnte es einen interessanten Erklärungsansatz darstellen.
Parallel zu den Geschehnissen im Zug erzählt Lado die Weihnachtsfeier der Familie Stradi. Hier gewinnt und verliert der Film zugleich. Dem feinfühligen Aufbau von Querverweisen zwischen den Handlungsräumen der Geschichte stehen plumpe Dialoge entgegen, die dem Zuschauer die Botschaft unangenehm direkt um die Ohren peitschen. Die spannende Inszenierung des filmischen Raums lässt dieses Manko jedoch dankenswerterweise recht schnell in den Hintergrund treten. Oftmals nimmt die Kamera hier ganz bewusst einen beobachtenden Gestus an. Sie tritt weit aus den Handlungsachsen der Figuren heraus und ermöglicht dem Zuschauer von Zeit zu Zeit einen distanzierten Blick auf die Ereignisse. Gleich dem perversen Voyeur im Zugabteil schleicht sie beispielsweise von außen um das Haus der Familie Stradi und sieht durch die Fenster ins Innere. Der Zuschauerblick erhält in diesen Momenten verstärkt voyeuristische Qualitäten, was gepaart mit dem Wissensvorsprung, den der Rezipient bezüglich der beiden Mädchen besitzt, für tiefes Unbehagen sorgt.
Night Train spielt durchgängig äußerst geschickt mit der Gefühlswelt des Betrachters. Besonders erwähnenswert ist die intensive Inszenierung im nächtlichen Zugabteil. Ohne viel Explizites zu offenbaren, geht der Film tief unter die Haut. Die Wände des kleinen, dunklen Zugabteils kommen dabei so nah, dass der Eindruck entsteht, zu starkes Ausatmen würde sie bersten lassen. Viel seiner Atmosphäre verdankt das Werk den eingesetzten Farbfiltern. Die betonte Stilisierung der Bilder bewirkt bei Curly, dass seine monströsen Charakterzüge hervortreten, während er den wohl drastischsten Moment des Films herbeiführt. Ein Umstand der überrascht. Denn bis dahin lässt die Zeichnung der Figuren auf Blackie als potentiellen Mörder schließen. Hierbei kommt Lados Entscheidung, sich mit Informationen über die Vergangenheit der beiden Kriminellen bewusst bedeckt zu halten, positiv zum Tragen. Der Zuschauer bleibt weitestgehend im Dunkeln und erliegt somit leichter dem Fehler des ersten Eindrucks.
Der deutsche Alternativtitel Mädchen in den Krallen teuflischer Bestien mag etwas sehr reißerisch anmuten und bei Zuschauern falsche Erwartungen entfachen. Night Train ist ein relativ untypischer Vertreter des Rape’n’Revenge-Genres, der unerbittlich die Spannungsschraube anzieht. Wer einen reinrassigen, sleazigen Exploiter erwartet, könnte aufgrund des seriöseren Grundtenors enttäuscht werden. Für Eurokult-Fans, die bereits Lados Regiearbeiten wie Malastrana und The Child zu schätzen wussten, ist dieses Werk uneingeschränkt zu empfehlen.