Filmbesprechung: Leichen unter brennender Sonne (Hélène Cattet & Bruno Forzani, 2017)
Kaum ein filmisches Œuvre fühlt sich derartig geschlossen und konsistent an wie das Werk von Hélène Cattet und Bruno Forzani. Sowohl inhaltlich als auch formal-ästhetisch schufen sie über die Jahre hinweg kinematographische Kunstwerke mit unverkennbarer Handschrift. Angefangen mit Kurzfilmen wie Catharsis (2001) und Chambre Jaune (2002), welche in späteren Jahren durch die stilwütig-experimentellen Spielfilme Amer (2009) und Der Tod weint rote Tränen (2013) ergänzt wurden, gelang es dem Regie-Duo Stück für Stück eine eigene filmische Ausdrucksform mit starkem Wiedererkennungswert zu entwickeln. Fester Bestandteil ihrer Arbeiten waren hierbei stets die Verhandlung (figuren-)psychologischer Prozesse sowie ein Gestus der Referentialität, der sich bisher auf Genremuster und -versatzstücke des italienischen Giallofilms konzentriert hat. Wie nun fügt sich vor besagtem Hintergrund die jüngste Regiearbeit in den filmischen Kosmos des Gespanns ein? Denn mit Leichen unter brennender Sonne (OT: Laissez bronzer les cadavres, 2017) verfilmt das Duo einen nahezu fünfzig Jahre alten, französischen Kriminalroman, der sich thematisch um einen Raubüberfall dreht und damit vertrautes Terrain allem Anschein nach verlässt. Doch tatsächlich nur auf den ersten Blick…
Selten verläuft im Leben alles nach Plan. Das muss auch die Diebesbande um Rhino (Stéphane Ferrara) feststellen. Kurz nach dem Überfall auf einen Sicherheitstransporter stoßen sie inmitten ländlicher Einöde auf zwei Frauen samt Kleinkind, die zu allem Überfluss auch noch dieselbe Destination wie das Trio anvisieren: die Herberge von Madame Luce (Elina Löwensohn). Der sorgfältig ausgewählte Unterschlupf der Kriminellen, für die es gilt, sich mit 250 Kilogramm Gold unbemerkt abzusetzen, entpuppt sich somit als deutlich belebter als anfänglich vermutet. Als darüber hinaus auch noch zwei Polizisten vor Ort auftauchen, eskaliert die Lage im Handumdrehen.
Gilt es Leichen unter brennender Sonne prägnant und mit wenigen Worten auf eine Essenz herunterzubrechen, so ließe sich der dritte Langspielfilm des Duos Cattet/Forzani als ein Kino der Irritationen beschreiben. Das Werk besitzt ein profundes Gespür dafür, intellektuelle Stolperstellen zu produzieren und somit Momente der Verunsicherung beim Betrachter zu evozieren. Zweifelsfrei ist dieser Ansatz kein Novum im filmischen Œuvre des Pärchens, aber sowohl Qualität und Quantität als auch der dieses Mal damit verwobene Genre-Bezugsrahmen – die Giallofilm-Motivik früherer Filme weicht in Leichen unter brennender Sonne einer Fokussierung auf Spaghetti-Western bzw. Poliziottesco – sind in ihrer Kombination mehr als beachtenswert. Die filmische Darstellung von Raum und Zeit, die im klassischen Erzählkino nach Eindeutigkeit und Kontextualisierbarkeit strebt, erlebt der Rezipient im Verlauf des Geschehens wiederholt als prekär, fragmentarisch und sprunghaft. Der Spielfilm entfaltet vor den Augen des Betrachters eine dezidierte Inszenierung von unheimlicher Räumlichkeit – zurückgehend auf Johannes Binottos Analyse-Ansatz, der im Gegensatz zu Freud nicht bestimmten Motiven per se unheimliche Qualitäten zugesteht, sondern in der Erfahrung konkreter räumlicher Figurationen die Quelle unheimlicher Gefühlswelten sieht –, die maßgeblich für die verstörend-betörende Wirkung des Werks ist. Relationen lassen sich nicht mehr klar definieren, Verortung – sowohl in Bezug auf die Filmfiguren als auch hinsichtlich des eigenen Betrachterstandpunktes im Raum – ist wiederholt bestenfalls nur vage und ungenau möglich. Exemplarisch lassen sich derartige Inszenierungsstrategien anhand der Szene nachvollziehen, in welcher Rhino und seine Bande mitsamt den unbeteiligten Zivilisten bei Madame Luce ein Grillfest abhalten. Das Nichts einer undurchdringlichen Schwärze umhüllt dabei die Figuren. Räumliche Marker, die es dem Blick des Betrachters ermöglichen könnten, gesicherte Relationen zwischen den Figuren und ihrer Umwelt bzw. auch untereinander zu etablieren, sind nicht existent. Stattdessen inszeniert Leichen unter brennender Sonne hier – wie auch an anderer Stelle – prekäre räumliche Situationen, die sich durch ihre Unbestimmbarkeit auszeichnen und die Orientierung des Rezipienten unterminieren.
Die offenkundige Beschäftigung des Films mit dem Zuschauerblick findet ihre Fortsetzung in Gestalt einer mindestens ebenso profunden Auseinandersetzung mit den Blicken der handelnden Akteure. Nicht nur spielen Cattet und Forzani mit der Wahrnehmung des Betrachters, welcher sich inmitten eines mediterranen Ruinenlabyrinths wiederfindet. Sie fordern ihn darüber hinaus gleichsam dazu heraus, sich ebenso eingehend des visuellen Wahrnehmungsapparates des Figurenensembles zu widmen. Beobachtend, ängstlich, gierig, fragend, missbilligend und noch vieles mehr – die Fokussierung auf Blicke und Blickstrukturen ist integraler Bestandteil der Inszenierung. Leichen unter brennender Sonne hält nicht nur ein schaulustiges Publikum in Atem, welches hier auf eine aggressive Melange aus Gewalt, schnellen Schnitten, schrillen Farben und auditivem Hyperrealismus stößt, sondern frönt zugleich einer ungeheuren Lust am Akt des Schauens. Leichen unter brennender Sonne entfaltet infolgedessen eine Poetik des Blicks, die den Zuschauer zugleich auf seine eigene, vor der Mattscheibe zelebrierte Schaulust zurückverweist. Am schmerzlichsten schließt sich dieser Kreislauf in dem Moment, als Cattet und Forzani dazu übergehen, das visuelle Sinnesorgan auch noch frontalen Angriffen auszusetzen, indem sie es einem der Gangster gestatten, einer Ordnungshüterin nicht nur in den Kopf zu schießen, sondern natürlich auch gleich noch das Auge mit der abgefeuerten Kugel direkt zu penetrieren.
Wie zuvor zitierte Filmszene bereits andeuten mag: Leicht verdauliche Filmkost liefert Leichen unter brennender Sonne nicht. Hinzukommt, dass das Werk besagte Momente voller Gewalt und Tod wiederholt mit einer hochgradig sexuellen Note auflädt und diesbezüglich auch keinesfalls subtil agiert. So treffen Eros und Thanatos beispielsweise in der Szene, in der Madame Luce mit einem der Ganoven ein Tête-à-Tête beginnt, vollkommen unverblümt aufeinander. Während beide Parteien dabei sind, Zärtlichkeiten auszutauschen, graben sich die Hände von Madame Luce hinter ihrem männlichen Gegenpart in ein abgehangenes Stück Fleisch. Voller Begierde und Wollust betasten und kneten sie diese tote Masse, als gehörte sie unmittelbar zu ihrem Objekt der Begierde. Ein weiteres Beispiel, welches jenes Aufeinandertreffen ebenfalls sinnfällig macht, findet sich gegen Ende von Leichen unter brennender Sonne. In einer Tagtraum ähnlichen Szene eröffnet einer der Verbrecher das Feuer aus seiner Maschinenpistole. Das Ziel: Eine der beiden jungen Damen, welche die Bande nach ihrem Raubüberfall aufgegriffen hatte. Doch anstelle den Körper mit blutigen Schusswunden zu übersäen, sorgt jede Feuersalve in dieser irrealen Szene dafür, dass die Frau Stück für Stück ihre Kleidung einbüßt. Buchstäblich wird sie mit Waffengewalt entblößt, sodass sie schlussendlich gänzlich nackt – gleichermaßen den voyeuristischen Blicken von Filmfigur und Rezipient ausgeliefert – zurückbleibt. Diese exemplarisch angeführten Szenen, die Eros und Thanatos miteinander engführen, reihen sich in ein allgemein von Trieben und Begierden thematisch dominiertes Werk ein. Hierbei muss konstatiert werden, dass Leichen unter brennender Sonne damit keinesfalls Neuland im Œuvre von Cattet und Forzani betritt. Die Verhandlung von Begierden und Trieben sowie eine spezifische damit einhergehende Ästhetik bzw. Visualisierung von psychischen Prozessen sind dem Duo spätestens seit Amer eigen. Leichen unter brennender Sonne wechselt diesbezüglich jedoch erstmalig in gewisser Art und Weise ein wenig die Ausrichtung, indem der Spielfilm die zuvor stets im Rampenlicht stehenden körperlichen Begierden thematisch zwar keinesfalls ausspart, sie jedoch dieses Mal mit einem bisher in der Filmographie unbeleuchteten Faktor verquickt: der materiellen Begierde, der halsbrecherischen Jagd nach dem Gold.
Leichen unter brennender Sonne erinnert an die Freudsche Definition des Unheimlichen. Auf vielerlei Art und Weise erscheint das Werk vertraut und doch zugleich fremd. Betrachter, welche sich bereits mit der Filmograhie des Duos auseinandergesetzt haben, stoßen in dem Spielfilm auf zuvor erprobte disruptive Inszenierungsstrategien und Motive, die Cattet und Forzani hier in einen neuen Genre-, Handlungs- und Figurenkontext einbetten. Leichen unter brennender Sonne mutet in diesem Zusammenhang wiederholt wie eine Einladung an. Förmlich wird der Zuschauer dazu aufgefordert, über die Bedingungen und inszenatorischen Konventionen des Mediums Film zu reflektieren, aber auch seiner eigenen voyeuristisch-schaulustigen Natur gewahr zu werden. Insbesondere letztgenanntem Aspekt bietet Leichen unter brennender Sonne dann auch nur allzu bereitwillig Futter, denn Hélène Cattet und Bruno Forzani ummanteln die Tiefgründig- und Vielschichtigkeit des Werks mit einem wahrlich hoch explosiven Überzug aus Sex, Gewalt und audiovisueller Opulenz.