Filmkritik: Avengers: Endgame (Joe & Anthony Russo, 2019)
Mit einem Paukenschlag beendet Avengers: Endgame (OT: Avengers: Endgame, 2019) die dritte Phase des Marvel Cinematic Universe rund um Iron Man, Captain America, Thor, Black Widow, Hulk und Co. Das Studio führt damit Handlungsstränge und Figurenkonstellationen, die über 21 Spielfilme hinweg aufgebaut und verwoben wurden, ihrem unausweichlichen Höhepunkt entgegen und sorgt im Zuge dessen für einen der am sehnsüchtigst erwarteten Blockbuster des Kinojahres 2019. Weil dieser Hype auch an Filmblog-Autoren, die sich im Wesentlichen auf älteres Genrekino fokussiert haben, nicht spurlos vorübergeht, sollen an dieser Stelle ein paar Betrachtungen zum Schlussstein der elfjährigen Superhelden-Odyssee formuliert werden. Natürlich geschieht das nicht gänzlich ohne Spoiler, d.h. Lesen auf eigene Gefahr!
Mithilfe des Infinity Gauntlets ist es Thanos gelungen, das Universum um die Hälfte seiner Bewohner zu dezimieren. Die Überlebenden sehen sich nunmehr einer Realität gegenüber, die von Verlust, Trauer und Unsicherheit geprägt ist. Hiervor erweisen sich auch die überlebenden Superhelden nicht gefeit und so suchen sie mit aller Macht nach einem Weg, um das Geschehene rückgängig zu machen. Als sich ihnen Thanos‘ Aufenthaltsort offenbart, müssen sie jedoch mit Schrecken feststellen, dass dieser die Infinity Steine bereits zerstört hat. Die Situation erscheint aussichtslos, das Schicksal unzähliger Lebewesen – gleichwohl auf der Erde als auch im restlichen Universum – für immer besiegelt…
Avengers: Endgame erweist sich durch ein grundlegendes Konzept geprägt, welches bereits ein Jahr zuvor in Avengers: Infinity War durch Thanos verbalisiert und zum zentralen Thema erhoben wurde: Ausgewogenheit („Perfectly balanced, as all things should be.“). Doch in Avengers: Endgame verbindet sich mit dem Aspekt der Balance noch weitaus mehr, als nur das Handlungsziel des Mad Titan, welches jener durch einen Massenmord von unvorstellbarer Größenordnung zu erzielen trachtet. In der Fortsetzung des Superhelden-Spektakels treffen Action, Tragik und Tod auf Ruhe, Komik und Leben. Die diametral entgegengesetzten Aspekte werden von den Russo Brüdern – respektive den Drehbuchautoren Christopher Markus und Stephen McFeely (u.a. Avengers: Infinity War & The First Avenger: Civil War) – zu einer Melange verquickt, deren Gleichgewichtsbestrebungen zwar zweifelsfrei nicht jedermanns Geschmack treffen werden, die im Kontext des Comichelden-Blockbusters jedoch einwandfrei funktioniert und den Zuschauer mit einem höchst stimmig orchestrierten Wechselbad der Gefühle konfrontiert.
Abseits der vorherigen Betrachtungen lässt sich der Balance-Aspekt gleichfalls auf intertextueller Ebene weiterverfolgen. So wirkte Avengers: Infinity War als für sich stehender Spielfilm durchaus narrativ etwas unausgewogen, da er vor dem Hintergrund einer beachtlichen Lauflänge – bereits der erste Teil des Finales schlägt mit knapp 2,5 Stunden Laufzeit zu buche – doch handlungstechnisch vergleichsweise wenig Material parat hält, welches aber wiederum mit einem auffallend epischen Narrationsgestus dargeboten wird. Avengers: Endgame hingegen kehrt die Vorzeichen in Bezug auf Erzählzeit – trotz seiner drei Stunden Lauflänge – und erzählte Zeit/Handlungsumfang um, wodurch das Werk wie ein Pendant zu seinem Vorgängerfilm wirkt, welches das Yin um ein Yang ergänzt und für Ausgewogenheit sorgt. Als höchst positiv erweist sich, dass Avengers: Endgame in diesem Kontext auch den ruhigeren Tönen vielfach Raum zur Entfaltung gibt. So legt der Film – auch wenn die ersten 20 Minuten zunächst etwas anderes implizieren mögen und schlussendlich eine überraschende Wendung parat halten – einen Schwerpunkt auf die Verarbeitung der Katastrophe, die mit Thanos‘ Fingerschnipsen einherging. Es wird umrissen, wie die Protagonisten im Einzelnen mit der Niederlage und den damit verknüpften Verlusten umgehen. Hierbei sollte natürlich kein Zuschauer das profunde Figurenpsychogramm eines Indie-Films erwarten. Jedoch nutzen Joe und Anthony Russo diese melancholischen Zwischentöne, die fernab des Superheldendaseins angesiedelt sind, geschickt, um die dramaturgische Fallhöhe zu akzentuieren. Sie kommunizieren effektiv, was für die Protagonisten – und hiervon extrapoliert: für das Universum – auf dem Spiel steht und mit welchen physischen und psychischen Konsequenzen ein endgültiges Scheitern verbunden wäre.
Avengers: Endgame besiegelt eine Ära, ohne vor diesem Hintergrund gänzlich schnurstracks auf das unausweichliche Finale zuzusteuern. Vielmehr richtet der Spielfilm seinen imaginären Blick mit nicht minder großer Akribie in die entgegengesetzte Richtung, d.h. in die Vergangenheit. Bedingt durch den Zeitreise-Heist-Plot ruft der Blockbuster die etablierte MCU-Historie auf und aktiviert selektiv diegetische Ereignisse und Themen wie den Kampf um New York, Tony Starks Beziehung zu seinem Vater oder Captain Americas verflossene Liebe. Dieser Kniff, über den bereits vor Filmveröffentlichung ausgiebig spekuliert wurde, ermöglicht es den Drehbuchautoren, noch einmal neuralgische Punkte des Franchises ins Zuschauergedächtnis zu rufen und den emotionalen Unterbau von Avengers: Endgame anzufüttern. Inwiefern es ihnen damit gelingt, einen Nerv zu treffen, ließ sich dann auch anhand der Klangkulisse im Kinosaal nachvollziehen, als nach knapp 180 Minuten aus vielen Ecken leises Schluchzen die Räumlichkeit durchzog.
Der Höhepunkt der dritten MCU-Phase oszilliert zwischen lauten und leisen Tönen und tritt – seiner drei Stunden Laufzeit zum Trotz – als höchst kurzweiliges Spektakel in Erscheinung. Darüber hinaus zeichnet sich der Spielfilm dadurch aus, dass sich in ihm eine Reihe richtiger und wichtiger Entscheidungen widerspiegeln. So tut es dem Franchise beispielsweise sichtlich gut, dass zum Abschluss der Infinity Saga mit höheren Einsätzen gespielt wird und nicht jeder Charakter das Schlachtfeld auch tatsächlich lebendig verlässt. In diesem Zusammenhang führt Avengers: Endgame eine Stärke des Vorgängerfilms fort und inszeniert wiederholt fulminante Auf- bzw. in diesem Fall auch gleichermaßen Abtritte, welche die Filmerfahrung nachhaltig prägen und dazu beitragen, dass Avengers: Endgame als würdiger Abschluss der Infinity Saga in die Annalen eingeht.