Filmkritik: Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key (Sergio Martino, 1972)
Die Welt des Giallos ist vielseitig und bietet dem geneigten Zuschauer reichlich zu entdecken. Das beweist neben Dario Argento, welcher mit seinen Beiträgen die italienische Filmlandschaft unwiderruflich mitentwickelt und nachhaltig geprägt hat, u.a. auch der nur zwei Jahre ältere und ebenfalls in Rom geborene Sergio Martino. Zu seinen bekanntesten Werken zählen Die Weiße Göttin der Kannibalen (1977) – ein Abenteuer-Ausflug in die Welt der Menschenfresser – und Der Killer von Wien (1970). Zwei Jahre nach Letztgenanntem entstand mit Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key (OT: Il Tuo vizio è una stanza chiusa e solo io ne ho la chiave, 1972) ein nicht minder interessanter Spielfilm.
Der abgebrannte Schriftsteller Oliviero Ruvigny (Luigi Pistilli) lebt mit seiner Frau Irena (Anita Strindberg) auf dem alten Landsitz seiner toten Mutter. Unverarbeitete Erinnerungen an die verschiedene Frau bündeln sich in psychischen und physischen Ausbrüchen, die sich gegen seine scheinbar wehrlose Gattin richten. Eine plötzliche Mordserie und der überraschende Besuch von Olivieros Cousine (Edwige Fenech) setzen die Beziehung der Eheleute noch zusätzlich unter Spannung. Eine Katastrophe bahnt sich an…
Sergio Martinos Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key ist alles andere als ein archetypischer Vertreter seiner Zunft, so wie ihn Argento beispielsweise mit seinem Meisterwerk Tenebre (1982) auf Zelluloid gebannt hat. Das erste Drittel gestaltet sich diesbezüglich als geschickt geleitete Irreführung. Typische Giallo-Muster werden von Martino zunächst eingeführt, nur um alsbald wieder fallen gelassen zu werden. So inszeniert der Regisseur anfangs eine vermeintliche Serienkillergeschichte, die reinrassig gallioesk daherkommt, verlagert dann aber den Fokus der Story und etabliert die Morde rückblickend als übergeordneten Rahmen. Mit dieser Vorgehensweise schlägt Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key gegenüber Genrekollegen deutlich weniger ausgetrampelte Pfade auf dem Weg zum Ziel ein, die sich für den geneigten Zuschauer als zweifelsohne erkundenswert erweisen sollen.
Die bereits erwähnte Fokusverlagerung vollzieht sich in Richtung Eheleben. Dabei wagt sich Martino so weit in genrefremdes Terrain, dass der Zuschauer zuweilen die Vermutung hegt, sich in einem anderen Werk zu befinden. Selten wird in derlei Filmen so starkes Augenmerk auf die Charaktere und ihre Bindungen gelegt, wodurch hier beinahe der Eindruck eines (Familien-)Dramas entsteht. Wie selbstverständlich entwickelt sich daraus eine anscheinend unverrückbare Täter-Opfer-Konstellation. Oliviero – seines Zeichens Aggressor – erhält gleich zu Beginn des Werks alle Möglichkeiten, um zum „Publikumsliebling“ zu avancieren. Sein Charakter ist ungehalten, vulgär, respektlos, gewalttätig und promiskuitiv. Der perfekte Schwiegersohn, dessen Status als Exzentriker wohl noch zu seinen liebenswürdigsten Eigenschaften gezählt werden muss. Es gelingt auf diese Weise ohne viel Mühe, Irena die Opferrolle zuzuschanzen und die Sympathien des Publikums zu verteilen. Nach Beginn der Mordserie möchte der Zuschauer auch schon fast die ersten Wetten auf die Identität des Killers abschließen, wenn da nicht diese leise, äußerst zaghafte Stimme flüstern würde, dass das alles ein bisschen einfach, ein bisschen zu uninspiriert wäre. Und in der Tat erweist sich Martinos Streifen als durchaus raffinierter und doppelbödiger.
Als Dreh- und Angelpunkt von Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key fungiert das ältliche Landhaus der Familie Ruvigny. Es versprüht eine Art morbiden, auf den ersten Blick gar nicht so unfreundlichen Charme, der sich gepflegt in die Geschichte einpasst. Erst beim zweiten Hinschauen lässt sich erkennen, was wirklich dahinter steckt. Der Zuschauer spürt die dort hausende, unterschwellige Aura des menschlichen Zerfalls – sowohl psychischer als auch physischer Natur –, nimmt das Anwesen als Brutstätte des Hasses und Zorns wahr. Es kristallisieren sich dabei fortwährend Querverbindungen zu Stanley Kubricks Shining (1980) heraus, in welchem die Thematik – das Haus als organischer Körper – acht Jahre später noch weiter behandelt worden ist. Zudem hat Kubrick in Shining eine kleine, aber umso feinere Reminiszenz versteckt, deren Quelle es in Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key zu entdecken gibt. Hinweis: „All work and no play makes Jack a dull boy.“
Inhaltlich greift Martino auf einen sehr düsteren Themenkomplex zur Unterfütterung seines Werks zurück. So bedient er sich u.a. an Motiven wie Realitätsverlust, Wahnsinn, Paranoia und Inzest, um den pessimistischen Grundton des Films zu forcieren. Des Weiteren gesellt sich eine essentielle Mixtur aus Sex und Gewalt zum abgründigen Sujet-Potpourri hinzu. Der Geschlechtsakt hat dabei nichts mit Liebe gemein. Er dient bestenfalls zur Triebbefriedigung, schlimmstenfalls der Demonstration von Macht und Gewalt. Für das italienische Genrekino hält sich der Film in seiner Inszenierungsweise jedoch ungewohnt zurück. Die Intention des Gezeigten wird klar vermittelt, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt ins allzu Exploitative abzudriften. Genau das Gleiche gilt hinsichtlich der dargestellten Gewalt. Kurz, prägnant und insgesamt eher dürftig gesät, ohne aber die Wirkung zu verfehlen.
Sergio Martinos Your Vice Is a Locked Room and Only I Have the Key ist ein sehenswertes Werk, das seinem Publikum eine kleine Lektion erteilt: Unterschätze nie die Macht von Drehbuchschreiber und Regisseur. Sie halten den Schlüssel zur Manipulation der Rezipienten in ihren Händen. Den passenden Beweis dafür liefert das Filmende, welches den Zuschauer noch einmal verstärkt über die Verteilung von Sympathien bzw. Täter-Opfer-Konstellationen – falls derlei undifferenzierte Denkansätze überhaupt angebracht sind und nicht alles sowieso eher in abgestuften Grautönen betrachtet werden sollte – nachdenken lässt. Martino erreicht zwar nicht die erzählerische Tiefe großer Dramen, liefert aber einen reifen und ernsten Genrebeitrag ab.