Filmkritik: The Child – Die Stadt wird zum Alptraum (Aldo Lado, 1972)
Mit nur einem einzigen Auftritt als James Bond gebührt dem Schauspieler George Lazenby zweifelsfrei der wenig ruhmreiche Titel des kurzlebigsten Doppelnull-Darstellers in der Geschichte des Franchises. Dabei standen Ende der 1960er Jahre zunächst durchaus weitere Agentenabenteuer mit dem australischen Mimen zur Diskussion. George Lazenby entschied sich jedoch gegen eine Rückkehr als Geheimagent und gab seine Lizenz zum Töten nach Im Geheimdienst Ihrer Majestät (1969) wieder ab. Vergleichbar prestigeträchtige Rollenangebote blieben in den folgenden Dekaden aus, weswegen es den Schauspieler fortan in deutlich abseitigere Gefilde verschlug. Ein Beispiel hierfür ist seine Hauptrolle in Aldo Lados morbid-schöner Giallo-Perle The Child – Die Stadt wird zum Alptraum (OT: Chi l’ha vista morire?, 1972).
Der in Venedig ansässige Bildhauer Franco Serpieri (George Lazenby) erhält Besuch von seiner kleinen Tochter Roberta (Nicoletta Elmi). Doch die anfängliche Familienidylle währt nicht lange. Eines Abends verschwindet das Mädchen ohne jegliche Spur. Franco fürchtet das Schlimmste. Aus quälender Angst wird schnell bittere Realität, als der Leichnam der Kleinen am nächsten Morgen im Wasser der Lagunenstadt treibt. Von Trauer und Schuld betäubt, verfolgt er gemeinsam mit Robertas Mutter Elizabeth (Anita Strindberg) die Fährte des Kindermörders. Hierbei stoßen sie auf zahlreiche Verdächtige in ihrem engsten Bekanntenkreis.
In The Child – Die Stadt wird zum Alptraum schickt Regisseur Aldo Lado seinen Protagonisten Serpieri mittels einer klassischen Whodunit-Narration auf eine atmosphärisch dichte – wenn auch zuweilen inhaltlich latent unausgeglichene – Mörderhatz durch die wunderschöne Tristesse Venedigs. Dabei gelingt es dem Werk wiederholt, durch Rote Heringe falsche Fährten zu legen, sodass die Identität des gesuchten Mörders bis zuletzt gewahrt bleibt. Als kleines Bravourstück all dieser hier zelebrierten Täuschungsmanöver darf sicherlich die mit Bedacht gewählte Garderobe des Killers gelten, die dem klassischen Motiv des schwarz behandschuhten Übeltäters – insbesondere im Œuvre der Giallo-Ikone Dario Argento (Das Geheimnis der schwarzen Handschuhe, 1970) wiederholt anzutreffen – eine interessante Facette hinzufügt.
Wie in Nicolas Roegs Wenn die Gondeln Trauer tragen (1973) emanzipiert sich auch in The Child die Stadt von ihrer konventionellen Kulissenfunktion. Stattdessen evoziert sie den Eindruck eines lebendigen Organismus, aus dessen Poren Melancholie und Morbidität direkt in das Filmbild sickern und dieses damit sättigen. An dieser Stelle gilt es unter anderem, die wunderbare Verfolgungssequenz an der Schiffswerft hervorzuheben, die zum einen – durch die bloße Wahl der Örtlichkeit – Schwermütigkeit und alles zersetzenden Zerfall visuell präzise kommuniziert und zum anderen durch besonders exquisite Bildkompositionen mit Franco, Serafian (Adolfo Celi) und Co. zu überzeugen weiß.
Neben besagter Sequenz bleiben vor allem die höchst suggestiven Point-of-View-Kamerafahrten im Gedächtnis haften. Verantwortlich hierfür zeichnet Franco Di Giacomo, der zuvor bereits die Bildgestaltung bei Dario Argentos Vier Fliegen auf grauem Samt (1971) übernommen hatte. Stellvertretend für den Mörder schleicht sich seine Kamera in The Child wiederholt an die Opfer heran. Dabei besitzen diese Einstellungen eine ausgesprochen surreal anmutende Aura, wenn sich der Täter – respektive der Aufnahmeapparat – den Figuren wiederholt auf Armeslänge nähert, jedoch keinerlei Reaktion im ahnungslosen Gegenüber evoziert. Hierdurch erlangt der Mörder den Status eines nahezu metaphysischen Wesens, dessen unheimliche Perspektive dem Zuschauer in jenen Momenten offeriert wird.
Obwohl The Child – Die Stadt wird zum Alptraum über die gesamte Spielzeit zu überzeugen vermag, schafft es das Werk im allerletzten Moment durchaus noch, ein klein wenig an Sympathie zu verspielen. Verantwortlich hierfür ist ein gekünstelt wirkender Mini-Twist, durch den der überführte Pater James (Alessandro Haber) schlussendlich „nur“ als Hochstapler im Priestergewand, d.h. als falscher Geistlicher, erscheint. Es wirkt, als wolle sich der Film an dieser Stelle – höchstwahrscheinlich durch äußere Zwänge bedingt – selbst zensieren, indem er die durchaus kontroverse Idee eines Kinder mordenden Priesters im letzten Moment abmildert. Hiermit verschenkt das Werk ein wenig an Potential und eröffnet rückblickend der einen oder anderen – absolut vermeidbaren – Ungereimtheit Tür und Tor.
Aldo Lado liefert mit The Child – Die Stadt wird zum Alptraum einen Giallo ab, der zu den Glanzlichtern seiner Zunft gehört. Zwar mangelt es der Mörderhatz zuweilen an erzählerischer Stringenz, doch das fällt zweifelsfrei in die Rubrik „Meckern auf hohem Niveau“ und sollte keinesfalls den positiven Gesamteindruck allzu sehr trüben. Insgesamt darf sich der Liebhaber italienischer Genrekost auf einen morbiden Giallo freuen, der insbesondere durch seine ästhetisch ansprechende Kameraarbeit, einen absoluten Ohrwurm-Score von Ennio Morricone und die prickelnde Verquickung von Eros und Thantos zu überzeugen vermag. Uneingeschränkte Empfehlung für Eurokult-Fans!